In den Berliner Schulen wird heute und morgen viel Unterricht ausfallen – denn die GEW hat zum Warnstreik aufgerufen. Ziel: kleinere Klassen, „Arbeitsbedingungen, die nicht krank machen“, wie es Udo Mertens von der GEW kürzlich formulierte. Dass die GEW da einen wunden Punkt trifft, zeigt ein Blick in die Statistik: die Krankenstände der Berliner Lehrkräfte sind so hoch wie nie – mit fatalen Folgen für Kinder und Jugendliche, deren Bildungserfolg massiv beeinträchtigt wird, wenn ständig Unterricht ausfällt.
Unterricht fällt aber nicht nur aus, wenn Lehrkräfte krank sind, sondern auch, weil es einfach insgesamt viel zu wenige gibt. Obwohl schlechte Ergebnisse bei PISA oder im IQB-Bildungstrend seit Jahren deutlich machen, dass sich in Deutschland endlich was tun muss, ist es bisher nicht gelungen, ausreichend Menschen zu motivieren, Lehrer*in zu werden.
Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz (SWK) hat deshalb jetzt Maßnahmen vorgelegt, wie der Lehrkräftemangel behoben und der Stundenausfall reduziert werden soll. Diese haben eingeschlagen wie eine Bombe – Lehrkräften, die spätestens seit Corona (und oft genug auch schon davor) auf dem Zahnfleisch gehen, soll die Teilzeit gestrichen werden, Lehrkräfte sollen mehr unterrichten und Klassen sollen vorübergehend noch größer werden können. Kein Wunder, dass Lehrerverbände dagegen Sturm laufen; denn die Folge ist nur allzu offensichtlich absehbar: Lehrkräfte würden bei dieser Zusatzbelastung noch häufiger krank werden, andere würden aufgrund der schlechten Vereinbarkeit von Job und Familie den Beruf ganz verlassen. Weitere Vorschläge der SWK: multiprofessionelle Teams in den Schulen, Entlastung der Lehrkräfte von Verwaltungsaufgaben und schnellere Anerkennung ausländischer Abschlüsse. Das sind keine neuen Ideen und die Ampelkoalition auf Bundesebene bringt vieles davon schon auf den Weg. So sollen mit dem Startchancenprogramm mehr Schulsozialarbeit in die Schulen und mit dem Chancenaufenthaltsrecht mehr Fachkräfte nach Deutschland kommen.
Die SWK hat jedoch die Chance verpasst, wirklich neue Ideen zu erarbeiten – weil sie eine entscheidende Frage nicht gestellt hat: was den Beruf als Lehrkraft eigentlich attraktiv macht.
Ich bin selbst Lehrerin. Ich habe Englisch und Geschichte studiert und so sehr ich mich für die Französische und noch viel mehr für die Friedliche Revolution begeistern kann, so sehr mein Herz hüpft, wenn ein Schüler endlich verstanden hat, dass „become“ nicht „bekommen“ heißt – genauso sehr kann ich sagen, das sind nicht die Momente, die den Beruf ausmachen.
Die Schülerin, die immer nur coole Sprüche klopft, aber während des Besuchs der Gedenkstätte plötzlich Deine Hand nimmt – weil ihre Coolness hier nicht weiter hilft. Der Schüler, der plötzlich ständig abgelenkt ist und Dir irgendwann erzählt, dass er sich nicht mehr konzentrieren kann, weil seine Eltern sich gerade getrennt haben – dem Du die Last nicht abnehmen kann, aber einfach da sein, zuhören, und es so doch zumindest ein bisschen leichter machen. Das sind die Momente, die diesen Job ausmachen.
Der Schlüssel zu mehr Lehrkräften sind Arbeitsbedingungen, die nicht nur „nicht krank“ machen, sondern die das, was den Beruf ausmacht, wieder erlebbar machen. Die Beziehungsarbeit ermöglichen. Und dafür braucht es Zeit. Also: kleinere Klassen, Zeit für Teamarbeit, weniger Korrekturen und weniger Unterrichtsverpflichtung.
Nun wird jeder Kultusminister den Kopf schütteln und sagen: ich hab ja jetzt schon nicht genug Lehrer, wie soll ich denen denn jetzt noch mehr Zeit geben? Aber müssen wir nicht gerade jetzt eine Zielvorstellung entwickeln, wie Schule in Zukunft aussehen soll, damit wir überhaupt noch Menschen begeistern können, diesen Job zu ergreifen? Ich bin mir sicher, dass wir nur mit einem solchen Ziel vor Augen können wir jetzt die richtigen Schritte gehen.
Dafür braucht es einen Stufenplan, und natürlich müssen von Aus- und Weiterbildung über Quereinstieg bis hin zu multiprofessionellen Teams inklusive Entlastung von Verwaltung und IT alle Register gezogen werden. Wir müssen gleichzeitig viel früher ansetzen und beispielsweise dafür sorgen, dass alle Kinder, die in die Schule kommen, auch in der Lage sind, dem Unterricht zu folgen – Hamburg macht es mit konsequenten Sprachstandserhebungen bei Vierjährigen vor.
Aber wir müssen jetzt die Chance nutzen, uns auch zu fragen, was Schule heute eigentlich leisten muss und wir sie sich für die Herausforderungen der heutigen Zeit aufstellen muss. Seit den Preußischen Reformen hat sich an der Grundstruktur unserer Schule nichts geändert; die Lehrkraft ist die zentrale Figur, es wird nach Fächern sortiert unterrichtet und nach einer gewissen Zeit wird das Gelernte überprüft und mit einer Note versehen. Viele Lehrkräfte sehen sich selbst zwar inzwischen nicht mehr als reine Wissensvermittler*innen, sondern als Lernbegleiter*innen – doch im System Schule ist das so noch nicht angelegt. Dabei müssen junge Menschen heute ganz andere Kompetenzen erlernen als vor 200 oder selbst noch vor 50 Jahren. Spätestens seit der Veröffentlichung von ChatGPT ist klar, dass junge Menschen heute nicht mehr einfach nur Wissen vermittelt bekommen müssen – sondern die Kompetenzen, sich in dieser digitalisierten Welt selbstbestimmt zu bewegen. Wir sollten die Chance jetzt nutzen, grundlegend neue Strukturen in der Schule zu schaffen – und sie damit wieder zum attraktiven Arbeitsort zu machen.
Ein Blick ins Schulgesetz kann den Blick aufs Wesentliche lenken: so unterschiedlich sie in den Bundesländern auch formuliert sein mögen, ist doch in allen die Zielsetzung gleich: Kinder und Jugendliche zu mündigen Bürger*innen zu erziehen.
Dafür braucht es natürlich gewissen Grundfertigkeiten – lesen, schreiben, rechnen. Natürlich ist die Schule auch der Ort, wo kulturelle Teilhabe ermöglicht wird und wo durch Sport und Ernährungsbildung Grundlagen für’s Leben gelegt werden. All das will ich nicht in Frage stellen. Doch wir sollten die Lehrpläne deutlich entschlacken, um ausreichend Zeit für die wesentlichen Fertigkeiten um Kompetenzen zu haben. Lehrkräfte sollten die Zeit bekommen, nicht nur Fachwissen zu vermitteln, sondern ihre Schüler*innen auf dem Weg ins Leben zu begleiten. Dafür müssen wir viel vernetzter denken – nicht nur fächerübergreifend, sondern womöglich gänzlich ohne einzelne Schulfächer. Es braucht viel mehr ehrliches Lernfeedback statt ständigen Notendruck. Keine ständigen Klassenarbeiten, sondern stetigen Austausch zwischen Lehrkraft und Lernenden. Es braucht viel mehr Augenhöhe in der Schule, viel mehr demokratische, echte Mitbestimmung der Kinder und Jugendlichen, damit sie sich auch im späteren Leben zur demokratischen Grundordnung bekennen.
In einer solchen Schule hätten Lehrkräfte eine andere Rolle als heute – doch in vielen Fällen würde diese wohl viel stärker der Rolle ähneln, wegen der viele sich für diesen Beruf entschieden haben.
All das klingt wie eine Vision aus einer anderen Welt, die völlig unmöglich erscheint. Und doch bin ich der festen Überzeugung, dass wir genau jetzt darüber reden müssen, wie die Schule der Zukunft aussehen soll. Die Bundesbildungsministerin und die Kultusminister*innen der Länder müssen scih jetzt gemeinsam dieser Aufgabe stellen. Nur dann können wir jetzt die Weichen stellen, um in zehn Jahren besser da zu stehen. Kurzfristig werden wir mit Notlösungen arbeiten müssen – doch diese dürfen nicht zum Dauerzustand werden und den Blick auf die wesentlichen Fragen der Schulqualität verhindern; denn sonst wird die GEW bald nicht mehr streiken – weil dann einfach keiner mehr zum Streiken da ist.
(Dieser Text ist in einer gekürzten Fassung zuerst in der Frankfurter Rundschau erschienen und hier abrufbar.